Frei nach Inge Wuthe.

In dieser bewegenden Geschichte treffen wir auf eine alte Frau, die eines Morgens einen staubigen Feldweg entlangläuft.
Unterwegs begegnet sie der traurigen Traurigkeit, einer geisterhaften Gestalt, die von den Menschen gefürchtet und gemieden wird.
Sie und die Traurigkeit treten in einen tiefen Dialog über das Wesen der Trauer und die Bedeutung der Akzeptanz.

Gemeinsam entdecken sie, dass selbst in den dunkelsten Momenten etwas existiert, das die Dunkelheit erhellen kann.
Eine ergreifende Erzählung über die Balance zwischen Schmerz und Zuversicht, die uns daran erinnert, dass wir in unseren schwierigsten Zeiten nicht allein sind.

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.
Sie leuchtete förmlich und die neblige Feuchtigkeit der Wiesen wich ihrem strahlenden Licht, als ob sie die Welt mit einem goldenen Pinselstrich berührte. Die Felder zu beiden Seiten des Weges erwachten in sattem Grün und bunter Blumenpracht, die zuvor im Dunst verborgen waren.
Sie sah die Raupen und Käfer auf dem Weg, den Fasan, der sich in der Wiese duckte und freute sich am leben, das sie umgab.

Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb die alte Frau stehen und sah hinunter. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen, die zerschlissen und von der Zeit gezeichnet war. Aus der Nähe konnte man die unzähligen Falten und Risse erkennen, die von unzähligen Begegnungen mit Leid und Schmerz zeugten.
Es schien, als würde die Farbenpracht der Wiese und alles leben darin, in der umgebung dieses Wesens ein wenig zu verblassen und grauer zu werden.

Die kleine Frau, die eine Aura der Wärme und Zuversicht umgab, beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: „Wer bist du?“
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit,“ flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
„Ach, die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
„Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit misstrauisch.
„Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“
„Ja, aber…“ argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?“
„Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“
„Ich… ich bin traurig,“ sagte die graue Gestalt.

Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. Ihr Gesicht war voller sanfter Falten, die von einem langen Leben und unzähligen gelächelten Augenblicken erzählten. „Traurig bist du also,“ sagte sie und nickte verständnisvoll. „Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.“
Die Traurigkeit seufzte tief und zögerte einen Moment, bevor sie sprach.
„Ach, weißt du,“ begann sie zögernd und auch verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, „es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“
Die Traurigkeit schluckte schwer und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: ‚Papperlapapp, das Leben ist heiter,‘ und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: ‚Gelobt sei, was hart macht,‘ und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: ‚Man muss sich nur zusammenreißen,‘ und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: ‚Nur Schwächlinge weinen,‘ und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, nur damit sie mich nicht fühlen müssen.“
„Oh ja,“ bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet…“

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
„Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme.
„Wie weich und sanft sie sich anfühlt“, dachte sie, und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.

„Weine nur, Traurigkeit,“ flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt.“
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin:
„Aber… aber – wer bist eigentlich du?“
„Ich?“ sagte die kleine alte Frau schmunzelnd. „Ich bin die Hoffnung.“

Die beiden Gestalten, Hand in Hand, gingen gemeinsam weiter, den Weg entlang. Hoffnung und Traurigkeit, zwei ungleiche Begleiter, die doch zusammengehören. Die Hoffnung flüsterte der Traurigkeit Mut zu, während diese ihre Last teilte. Und so lernte die Traurigkeit, dass selbst in den tiefsten Schatten die Hoffnung glimmen kann, die die Dunkelheit weichen lässt.

Frei nach Inge Wuthe: http://www.inge-wuthe.de/traurigetraurigkeit.htm