Der Wahrheit zuliebe 2 – Münchhausens gläserne Käfige
In dieser Episode von „Der Schalltrichter“ nimmt Thomas Speck uns mit auf eine schillernde Reise durch den Basar der Illusionen, wo Wahrheiten schimmern und Lügen glitzern. An der Seite des charmanten Baron Münchhausen erkunden wir Karussells der Täuschung und beobachten, wie gläserne Käfige sich um uns schließen, während wir weiterhin glücklich Beifall klatschen.
„Ah, da bist du ja wieder!“ Baron Münchhausen sitzt entspannt an seinem Marktstand, der Sessel mit einer Seidendecke drapiert, als hätte er nur darauf gewartet, dich wiederzusehen. Er mustert dich mit einem schelmischen Lächeln. „Na, und? Was hast du nach unserem letzten Abenteuer gelernt? Hat die Wahrheit ihre Maske gelüftet?“
Du zögerst, suchst nach Worten. Schließlich sagst du nachdenklich: „Ich glaube, die Wahrheit… sie ist nicht so fest, wie ich dachte. Sie ist wie… ein Kaleidoskop. Jeder sieht etwas anderes, je nachdem, wie er es betrachtet. Für den einen ist es ein Schatz, für den anderen ein Trugbild. Es hängt davon ab, wie man hinsieht.“
Münchhausen legt den Kopf schief, sein Blick neugierig. Du fährst fort: „Selbst die Wissenschaft – sie findet nie die eine endgültige Wahrheit. Es geht mehr darum, auf dem Weg etwas zu lernen. Jede Antwort wirft neue Fragen auf. Vielleicht ist das der eigentliche Wert: die Suche, nicht das Ziel.“
Münchhausen lächelt breit. „Ja, sie ist schwer zu begreifen. So ist sie, die Wahrheit – ein Chamäleon mit einem Hang zur Dramaturgie. Aber keine Sorge, mein Freund. Ich habe noch mehr für dich.“
Er erhebt sich, und seine Silhouette zeichnet sich vor einem gewaltigen, glitzernden Zelt ab, das wie aus einer anderen Welt zu stammen scheint. „Da drin ist das Karussell der Umkehrungen“, erklärt er mit verschwörerischem Lächeln. „Hier bedeutet das Eine das Andere, Tritt ein – lass dich überraschen. Das wird spektakulär!“
Mit einem eleganten Schwung zieht er die Vorhänge zur Seite, und du betrittst eine bunte, bizarre Welt. Überall flackern Lichter, und Stimmen flüstern Worte, die das Gegenteil von dem zu bedeuten scheinen, was du glaubst zu hören. „Hier“, ruft Münchhausen, „nehmen wir die Gesetze des Logischen und machen daraus ein Jonglier-Programm. Also, worauf warten wir? Lass uns beginnen.“
Münchhausen führt dich ins Zelt, und sogleich umfängt dich ein seltsames, schummriges Licht. Die Luft ist erfüllt von einem kaum wahrnehmbaren Summen, das von überall und nirgends zugleich zu kommen scheint. Im Zentrum des Raumes steht das Karussell – ein Kunstwerk der Absurdität. Kein Kindertraum aus weißen Pferden und fröhlichen Melodien, sondern ein Mechanismus, der mit seinen verzerrten Formen und schillernden Farben eine seltsame Faszination ausübt. Es erstrahlt in einem unnatürlichen, fast hypnotischen Glanz, der dich kaum wegsehen lässt.
Die Kreaturen darauf sind seltsam vertraut und doch völlig fremd: Eine Friedenstaube breitet ihre Flügel aus, aber sie enden in scharfen Krallen, die Funken schlagen, wenn sie das Metall berühren. Ein schimmerndes Gefängnis mit majestätischen Flügeln dreht sich langsam, sein Inneres kaum erkennbar, aber es strahlt eine unheimliche Wärme aus. Daneben ein Überwachungsroboter, freundlich lächelnd, mit glänzenden Kameralinsen anstelle von Augen, die sich suchend im Raum bewegen.
Münchhausen bleibt vor dem Karussell stehen, schiebt den Hut ein wenig in den Nacken und breitet die Arme aus, als wolle er eine große Offenbarung ankündigen. „Das Prinzip der Umkehrung“, sagt er mit einem verschwörerischen Lächeln, „ist eine Kunst, die auf Täuschung basiert. Man nimmt etwas, das jeder kennt, jeder versteht – und verpackt es so, dass es wie das genaue Gegenteil aussieht.“
Er macht eine kleine Drehung auf dem Absatz, sein Mantel weht theatralisch. „Es ist wie ein Zaubertrick. Man zeigt dir eine Taube – rein, unschuldig – und schwupp, verwandelt sie sich in etwas völlig anderes. Und das Beste daran ist: Du glaubst, sie sei immer noch eine Taube.“
Er tritt näher ans Karussell, legt eine Hand auf das Holz, als wollte er dessen Bedeutung spüren. „Umkehrung bedeutet, dass man das Gewöhnliche nimmt und es in etwas Besonderes verwandelt – oder zumindest so tut. Es ist nicht, was es ist, sondern das, was du glaubst, dass es ist. Verstehst du?“
Seine Augen funkeln, als er sich zu dir dreht. „Und wenn du erst einmal überzeugt bist, brauchst du nicht länger die Wahrheit. Die Illusion reicht vollkommen aus.“
Mit einem Fingerschnippen setzt sich das Karussell langsam in Bewegung. „Also, steig auf. Es wird dir zeigen, wie meisterhaft diese Kunst beherrscht wird. Der erste Ritt ist immer der intensivste. Und keine Sorge“, fügt er augenzwinkernd hinzu, „es tut kein bisschen weh.“
Sein Tonfall ist spielerisch, doch in seinen Augen funkelt etwas, das dich gleichzeitig reizt und beunruhigt.
Das Summen wird lauter, als du näher trittst. Die Oberfläche des Karussells scheint zu vibrieren, als wäre es lebendig. Ein leises Knirschen ertönt, als das Sicherheitswesen seinen Kopf zu dir neigt, fast einladend. Du spürst einen Hauch von Kälte, der von dem Konstrukt ausgeht, doch zugleich scheint es dich zu locken, wie ein Rätsel, das darauf wartet, gelöst zu werden.
Münchhausen tritt hinter dich und legt dir eine Hand auf die Schulter. „Keine Angst“, sagt er mit einem Lächeln, das ebenso beruhigend wie herausfordernd wirkt. „Jedes Wesen auf diesem Karussell hat eine Geschichte zu erzählen. Du musst sie nur hören wollen.“
Das Karussell dreht sich, erst sacht, fast beruhigend, doch dann wird das Schaukeln unruhiger. Die Lichter, die es zuvor in ein hypnotisches Glühen tauchten, flackern und werden schärfer. Es ist, als würde sich die Welt um dich herum verziehen. Die Kreaturen auf dem Karussell – die Friedenstaube mit den Krallen, das Gefängnis mit Flügeln, der lächelnde Sicherheitsbeamte – scheinen plötzlich lebendig zu werden. Ihre Bewegungen sind unberechenbar, und du spürst ein Frösteln, das dir den Rücken hinaufläuft.
„Bereit für die erste Geschichte?“ Münchhausens Stimme hallt in deinem Kopf, sanft und gleichzeitig eindringlich. „Halte dich fest, mein Freund. Was du sehen wirst, hat nichts mit den Versprechungen zu tun, die man dir gemacht hat.“
Das Karussell dreht sich schneller, und die Formen verschwimmen. Die Szenerie um dich herum beginnt sich zu verändern – erst flüchtige Schatten, dann klarere Konturen. Du fragst dich: Wo bin ich hier?
Doch bevor du dir eine Antwort geben kannst, tauchst du in eine andere Welt ein. Rauch dringt dir in die Nase, und ein ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllt die Luft und bevor du es begreifst, bist du mitten in einer Stadt, die in Flammen steht. Die Luft ist erfüllt von Rauch und dem ohrenbetäubenden Donnern von Explosionen. Überall sind Plakate zu sehen: „Frieden durch Stärke!“ „Bomben – Der Weg zur Freiheit!“
Die Straßen sind leer, bis auf ein kleines Mädchen, das eine zerfetzte Puppe hinter sich herzieht. Eine Schrift hängt über ihr: „Demokratie – ein Geschenk aus der Luft!“ Der Himmel über ihr wird von Kampfjets durchzogen, die eine neue Ladung „Freiheit“ abwerfen. Eine Stimme, glasklar und voller Euphorie, tönt über Lautsprecher: „Der Weg zum Frieden führt durch den Konflikt. Je mehr wir zerstören, desto besser wird die Welt von morgen.“
Ruinen, wo einst Häuser waren. Menschen kramen in den Trümmern nach Resten ihres Lebens, während ein Mann auf einer improvisierten Bühne verkündet: „Dies ist der Preis für den Frieden. Freiheit hat ihren Wert, und den zahlen wir alle.“ Neben ihm ein Schild, auf dem steht: „Krieg ist Frieden.“
Münchhausen sitzt auf dem Karussell neben dir, als wäre das alles eine inszenierte Show. „Siehst du?“ flüstert er mit einem Hauch von Bitterkeit. „Frieden ist nicht das Ziel – es ist ein Verkaufsargument. Jede Bombe ist ein Feuerwerkskörper in einem endlosen Spektakel. Und das Publikum? Nun, sie jubeln, solange sie glauben, dass sie dabei verschont werden.“
Das Karussell dreht sich schneller, und die Bilder vor dir verschmelzen zu einer chaotischen Collage.
Du siehst die Folgen des Vietnamkriegs: Wälder, die durch Agent Orange verbrannt sind, und Menschen, die in verseuchten Landschaften leben.
„Willkommen im Theater der Unmöglichkeiten! Schau genau hin, mein Freund. Vietnam – das war nicht einfach ein Krieg, das war… eine Gärtnerei der besonderen Art. Agent Orange? Ein bisschen wie Unkrautvernichter, nur dass er nicht nur das Unkraut getötet hat, sondern auch gleich die Zukunft der Menschen. Wälder verschwunden, ganze Landschaften verwandelt und Millionen von Toten – ich würde sagen, ein beeindruckendes, wenngleich etwas destruktives Kunstwerk.“
Der Irakkrieg tauscht auf und Du mitten im Geschrei, dem dumpfen Brüllen fallender Bomben, knatternde Gewehre … zerstörte Städte, zerbrochene Familien, der Aufstieg von Gruppierungen, die im Chaos geboren wurden und einander bekämpfen.
„Hör zu“, sagt Münchhausen und dreht sich zu dir um. „2003 marschierten die USA in den Irak ein, bewaffnet mit Bomben und einem Wörterbuch voller Euphemismen. ‚Demokratie und Frieden‘, hieß es. Klingt doch gut, oder? Aber während sie das verkündeten, zerfiel Bagdad in Schutt und Asche. Und die Begründung? Massenvernichtungswaffen. Nur, die hat man nie gefunden. Aber immerhin: Demokratie, geliefert frei Haus. Oder, na ja, zumindest bis zur Haustür, die meistens auch weggesprengt wurde. Keine Massenvernichtungswaffen, aber meine Güte, wer braucht schon Fakten, wenn das Spektakel stimmt? Weißt Du: das wahre Ziel war nie die Wahrheit, sondern das Narrativ. Was übrig blieb, waren Hunderttausende Tote, Chaos und neue Konflikte – aber niemals hielt dort der Frieden Einzug.“
Das Bild wechselt erneut: „Ah – Afghanistan – ein Krieg, der lief wie ein schlechter Film, den keiner zu Ende schauen wollte. Und als der Vorhang fiel? Die Taliban zurück auf der Bühne, als hätte man sie nur kurz in der Pause weggeschickt. Jahrzehnte des Kampfes, nur um mit einem panischen Abzug zu enden und die Taliban zurückzulassen. Das war der Dauerbrenner unter den Konflikten. Jahrzehnte voller Töten für Freiheit und Fortschritt – zumindest für die Rüstungsindustrie. Und am Ende? Ein schneller Abzug und ein herzliches ‚Viel Glück, Taliban!‘ – ein wahres Beispiel für nachhaltige Außenpolitik.“
Er zeigt auf eine Karte, die sich langsam auf dem Karussell entfaltet. „Israel und die Hamas – eine andere Bühne, dieselbe Logik. Beide Seiten rechtfertigen ihre Gewalt. Israel verteidigt seinen Frieden, die Hamas kämpft gegen Besatzung. Aber am Ende? Raketen, Bomben, tote Zivilisten. Die Menschen, die nichts damit zu tun haben, zahlen den höchsten Preis. Israel und die Hamas – zwei Spieler in einem unendlichen Schachspiel, bei dem die Bauern immer geopfert werden. Beide Seiten sprechen von Sicherheit und Widerstand, doch am Ende? Es sind immer die Unschuldigen, die weder Raketen noch Bomben gebaut haben, die für den ‚Frieden‘ bezahlen.“
Er lehnt sich zurück, seine Stimme wird ernster. „‚Krieg für den Frieden‘ – eine Logik, so scharf wie ein Buttermesser. Es funktioniert, weil Angst ein besserer Verkäufer ist als Vernunft. Aber der Frieden, den sie dir versprechen? Der ist so echt wie ein Schauspieler in einer Waschmittelwerbung.“
Er lässt eine Pause, bevor er flüstert: „Und trotzdem glaubt ihr daran. Immer wieder.“
Die Geschwindigkeit des Karussells wird unerträglich, und dir wird übel. Dann, mit einem Ruck, stoppt es. Die Szene, die sich vor dir entfaltet, ist eine erschreckende Leere. Keine Städte, keine Menschen – nur verbrannte Erde. Münchhausen steht auf, sein Gesicht ernst. „Das ist die Wahrheit, die sie nicht zeigen wollen. Frieden, aufgebaut auf den Ruinen einer Welt, die sie zerstört haben. Und doch? Es geht immer weiter, denn das nächste Feuerwerk ist schon geplant.“
Münchhausen lehnt sich zurück, seine Augen glitzern vor gespielter Bewunderung. „Ist es nicht faszinierend, wie diese Kriege immer so grandios verpackt werden? ‚Frieden für alle!‘ schreien sie, während sie die nächste Bombe zünden. Es ist fast, als wäre das alles ein gigantisches Feuerwerk, und ihr seid die begeisterten Zuschauer.“
Er grinst breit, bevor sein Gesicht wieder ernster wird. „Aber schau genau hin. All das Chaos, all die Toten – das ist der Preis für ihren Frieden. Ein Frieden, der wie ein Illusionszauber verkauft wird. Und das Schlimmste? Die meisten von euch klatschen Beifall, während der Rauch euch die Sicht vernebelt. Aber mein Freund, sag mir, glaubst du wirklich, dass das Frieden ist?“
Das Karussell kommt zum Stillstand, und die grotesken Kreaturen auf den Sitzen scheinen dich direkt anzusehen. Die Luft ist still, nur Münchhausens leises Summen bricht die Stille, während er mit einem Tuch eine imaginäre Staubschicht von einem der Holzsitze wischt.
Du nimmst einen tiefen Atemzug und sagst: „Das kann ich ja noch verstehen, aber das ist alles so weit weg. Ich frage mich jedoch, was ist mit dem, was wir jeden Tag erfahren? Wo sind denn hier die Wahrheiten versteckt?“
Münchhausen hebt den Kopf, seine Augen leuchten amüsiert, als hätte er nur darauf gewartet. „Was denkst du?“ fragt er mit einer Mischung aus Neugier und Schelmerei in der Stimme. „Hast du jemals darüber nachgedacht, wie oft du selbst Teil eines solchen Spiels warst?“
Er lässt die Frage kurz in der Luft hängen, bevor er mit einer theatralischen Geste auf das Karussell deutet. „Vielleicht ist es an der Zeit, dass du genau das herausfindest. Es ist leicht, die Umkehrungen in der Ferne zu erkennen. Aber wenn sie direkt vor deiner Nase stattfinden, ist das eine ganz andere Geschichte.“
Münchhausen klopft sich den Mantel ab, als hätte der Ritt ihn ordentlich eingestaubt, und blickt dich mit leichtem Kopfschütteln an. „Aber du bist nicht leicht zu überzeugen, was? Na gut“, sagt er schließlich und greift nach deinem Arm. „Komm, lassen wir das Karussell. Ich zeige dir im wahren Leben, wo du suchen musst.“
Er führt dich aus dem Zelt hinaus, zurück auf den Basar. Die Welt draußen scheint sich verändert zu haben – oder liegt es an dir? Die bunten Stände, die Händler, die Käufer – alles wirkt irgendwie greller, intensiver, aber auch… trügerischer. Münchhausen bleibt stehen und zieht eine Brille aus seiner Tasche. Sie sieht unscheinbar aus, aber ihre Gläser schimmern in einem merkwürdigen Licht.
„Setz die auf“, sagt er mit einem Zwinkern. „Du wirst staunen, wie klar die Dinge plötzlich werden.“
Kaum hast du die Brille aufgesetzt, verwandelt sich die Szenerie vor deinen Augen. Du siehst die Menschen – dieselben Menschen wie vorher – doch jetzt erkennst du, was sie wirklich tun. Dort drüben ist ein Stand, an dem goldene Kugeln verkauft werden, mit der Aufschrift: „Garantierte wahre Sicherheit – nur heute!“ Die Käufer reißen sie den Händlern förmlich aus den Händen, lächeln glückselig, während sie die glänzenden Kugeln an ihre Brust drücken.
Doch durch die Brille siehst du, was sie wirklich sind: gläserne Käfige. Sobald die Menschen die Kugeln fest umklammern, beginnen diese sich zu entfalten – unsichtbare Gitterstäbe schließen sich um sie, und plötzlich sitzen sie in Käfigen, die sie nicht verlassen können. Doch das Seltsamste ist: Die Menschen lächeln weiterhin, als hätten sie nicht bemerkt, dass sie eingesperrt sind.
„Das sind sie“, sagt Münchhausen leise neben dir. „Die Käfige, deren Gitter aus den Lügen bestehen, die du eben auf dem Karussell gesehen hast. Jede Lüge, jede verdrehte Wahrheit wird zu einem unsichtbaren Stab. Und die Menschen? Sie sperren sich freiwillig ein.“
Er deutet auf einen Mann, der mit strahlendem Gesicht in einen Käfig tritt. „Da drinnen ist er sicher. Keine Risiken, keine Entscheidungen – und keine Freiheit. Aber was macht das schon? Sicherheit verkauft sich immer besser als Freiheit, aber er glaubt, dennoch frei zu sein.“
Münchhausen nimmt dir die Brille ab, und für einen Moment verschwimmt die Szenerie wieder in ihren bunten, lebhaften Farben. „Siehst du, mein Freund? Das Karussell ist nur die Theorie. Hier draußen? Das ist die Praxis. Die Wahrheit wird verkauft – sie wird umgedreht, verpackt und als etwas völlig anderes präsentiert. Und sie kaufen es mit Freuden.“
Er wendet sich wieder dem Basar zu, seine Stimme hat jetzt einen spöttischen Unterton. „Willst du eine Kugel kaufen? Oder sollen wir weitersehen, was es hier noch so gibt?“
Der Baron deutet auf einen neuen Stand, an dem sich eine kleine Menschenmenge drängt. „Ah, dort drüben – das Büchlein der Wahrheit!“ Sein Ton tropft vor Spott, während er näher tritt und dir den Blick auf die Szenerie freigibt.
Hinter dem Stand steht ein freundlich lächelnder Verkäufer in makellosem Anzug. Er hebt ein kleines Buch in die Luft, das mit goldenen Lettern verziert ist: „Die volle Wahrheit – alles, was du wissen musst!“ Menschen strecken die Hände danach aus, werfen Münzen und Scheine auf den Tresen, während sie gierig nach dem Buch greifen.
Doch durch die Brille siehst du, was es wirklich ist: ein Versicherungsvertrag, der dicht bedruckt ist mit unleserlichem Kleingedruckten. Ein Mann, der gerade ein Exemplar aufgeschlagen hat, ruft begeistert: „Jetzt bin ich abgesichert! Ich bin geschützt vor allen Gefahren!“ Doch die Worte auf den Seiten verändern sich vor deinen Augen: „Höhere Gewalt nicht abgedeckt. Nicht gültig in den meisten Fällen. Im Schadensfall bitte nicht stören.“
Münchhausen schüttelt den Kopf. „Das Büchlein der Wahrheit – eine Versicherung gegen die Ungewissheit des Lebens. Aber wehe, du brauchst sie. Dann ist die Wahrheit plötzlich sehr flexibel.“
Er führt dich weiter zu einem anderen Stand, an dem etwas Seltsames in der Luft flimmert. Zuckerwatte – doch sie ist nicht rosa, sondern schillert in allen Farben des Spektrums. „Flimmernde Zuckerwatte der Wahrheit!“ ruft die Verkäuferin, während sie die Menschen mit einer großen Schaufel bedient. „Lutschen Sie sich glücklich! Nur ein Bissen, und Sie werden sich fühlen, wie nie zuvor!“
Die Käufer nehmen die Zuckerwatte in die Hand, lecken daran und bekommen einen glasigen Blick, während sie selig lächeln. Doch durch die Brille siehst du, dass die Zuckerwatte klebrige Fäden hinterlässt, die sie an unsichtbare Stangen fesseln. „Das ist für all jene“, erklärt Münchhausen, „die sich nach einer starken Hand sehnen, die sie führt. Was sie nicht sehen, ist, dass diese Hand sie nur fester in ihren Käfig drückt.“
Ihr geht weiter, vorbei an Ständen voller glitzernder Waren:
„Wahrheit in Flaschen“ – Flüssigkeit, die angeblich Mut, Klarheit oder Erfolg bringt, aber in Wahrheit betäubt. Die Käufer trinken und wirken wie Marionetten, ihre Bewegungen schleppend, ihre Augen leer. „Das ist das Fläschchen, das sie glauben lässt, das ihre Arbeit sie weiterbringt, dass sie Karriere machen können.“ erklärt Münchhausen.
Oder dort, der „Spiegel der Wahrheit“ – Menschen starren in spiegelnde Oberflächen, auf denen steht: „Sehe dich, wie du wirklich bist!“ Doch die Spiegel zeigen nur, was die Käufer sehen wollen – verzerrte, idealisierte Bilder ihrer selbst.
In einem zauberhaften Laden gibt es „Die Krone der Wahrheit“ – ein funkelndes Diadem, das angeblich Weisheit verleiht. Aber sobald jemand es aufsetzt, erscheint durch die Brille ein leuchtender Schriftzug: „Besitzer ist verpflichtet, den Regeln zu folgen.“
Je weiter ihr geht, desto grotesker werden die Szenen. Menschen kaufen begeistert „Pillen der Wahrheit“, die ihnen suggerieren, sie hätten die Kontrolle über ihr Leben zurück. Andere stehen Schlange für „Masken der Wahrheit“, die sie wie Marionetten aussehen lassen, während sie sich für einzigartig halten.
Und du siehst Menschen, die sich Überwachungskameras in ihre Wohnzimmer stellen. Sie wissen, dass fremde Augen nun jedes ihrer Worte, jede ihrer Bewegungen beobachten. Und doch lächeln sie zufrieden, als hätten sie ein unsichtbares Schutzschild installiert. „Ich habe nichts zu verbergen“, murmelte einer, während die Kamera surrend seinem Kind beim Spielen zusieht. „Es ist ja nur zu meinem Besten.“
Nicht weit davon entfernt folgen Menschen einem Rattenfänger, der eine Melodie spielt, die du nicht hören kannst. Ihre Gesichter strahlen, ihre Schritte sind beschwingt, als sei dies ein Festzug der Freude. Doch die Brille zeigt dir die Wahrheit: Der Weg, den sie nehmen, führt über eine Klippe. Und sie springen – einer nach dem anderen, jubelnd, lachend, die Arme in die Luft werfend, als warteten unten weiche Kissen statt scharfer Felsen.
Dann siehst du Männer, Frauen und sogar Kinder, die sich verzweifelt in die bunten Gassen des Basars stürzen, um Dinge zu kaufen, die sie für unentbehrlich halten. Sie ergattern glänzende Geräte, schillernde Accessoires, künstlich leuchtende Lebensmittel, die angeblich glücklich machen sollen. Ein Mann hält eine Tüte hoch, auf der steht: „Endlich zufrieden!“ Doch durch die Brille siehst du, wie die Produkte in seinen Händen zu Staub zerfallen, während er weiter kauft, immer weiter, in der Hoffnung, das nächste Stück bringe endlich die Erlösung.
„Und, mein Freund, wie oft hast du dich schon in solch einem Käfig wiedergefunden?“
Münchhausen bleibt stehen und sieht sich um, während er langsam in die Hände klatscht. „Ein Meisterwerk, nicht wahr? Alles hier glänzt, alles scheint wahr. Und doch – alles ist eine Lüge.“ Er dreht sich zu dir um, seine Stimme wird ernst. „Weißt du, warum dieser Basar so gut funktioniert? Weil die Menschen keine Wahrheit suchen. Sie suchen Trost, Sicherheit, Bestätigung. Und genau das verkauft man ihnen – verpackt in glitzernde Illusionen, denen sie an jeder Ecke ihres Lebens begegnen. In jedem laden, in jeder Werbung. Oder in jedem Amt, ja sogar bei deinem Nachbarn.“
Er hebt eine goldene Kugel vom Boden auf und hält sie dir entgegen. „Das hier – das ist das Prinzip. Man gibt Dir, was du zu wollen glaubst. Und Du bezahlst bereitwillig, nicht mit Geld, sondern mit deiner Freiheit. Die Logik dahinter ist einfach: Wer die Wahrheit kennt, kann sie verdrehen. Wer die Lügen glaubt, ist gefangen.“
Er lässt die Kugel fallen, und sie zerbricht wie Glas. Dahinter liegt nur kalte, graue Asche. Münchhausen schüttelt den Kopf, sein Lächeln bitter. „Und das, mein Freund, ist die Wahrheit über Wahrheit. Sie ist nur so viel wert, wie die Lüge, die sie ersetzt. Aber hey, wer braucht schon Freiheit, wenn die Illusion so schön glitzert?“
„Weißt du,“ sagt Münchhausen, während er das zerbrochene Glas der goldenen Kugel mit dem Fuß wegschiebt, „die Wahrheit ist tatsächlich wie ein Kaleidoskop – voller Farben, Formen und Möglichkeiten. Aber denke dran: Das Bild darin verändert sich nur, weil jemand am Rad dreht. Die Frage ist nur, wer dieses Rad in der Hand hält – und warum.“
PS:
Münchhausen zieht eine kleine Sanduhr aus seiner Tasche, dreht sie langsam um und beobachtet den rieselnden Sand. „Die Zeit wird knapp“, murmelt er, und ein Schatten legt sich über sein Gesicht. „Der Basar wächst, und mit ihm die Lügen. Wenn wir nicht bald handeln … “ Er bricht ab, hebt den Blick zu dir und lächelt leicht, doch es erreicht seine Augen nicht. „Aber das erzähle ich dir nächstes Mal.“