In dieser Episode von *Der Schalltrichter* entfaltet Thomas Speck eine kraftvolle Allegorie auf das Älterwerden – verkörpert durch eine alte, verwitterte Säule, die einst Tempel trug und das Gewicht der Welt stützte. Heute steht sie jedoch einsam in einer überholten Landschaft, umgeben von Moos und Vergessenheit.
Ich bin eine Säule. Dorisch, Ionisch, wer zur Hölle weiß das schon? Eigentlich spielt es keine Rolle, denn die Zeiten, in denen solche Details Bedeutung hatten, sind lange vorbei. Aber es muss alles in Schubladen gepackt werden – der hilflose Versuch Ordnung zu schaffen selbst über die Zeit. Also, wenn’s hilft: Ich bin wohl am ehesten eine kubische Säule. Rechteckig, solide, funktional. Ohne großen Schnickschnack. Eine Säule für Pragmatiker.
Aber stütze ich irgendetwas? Einen Tempel, einen Palast, vielleicht sogar das Gewicht der Welt? Nein. Da ist kein Dach mehr über mir, keine Last, die meine Existenz rechtfertigt. Keine Giebel, die meinen Beistand erfordern. Ich stehe hier, allein, mitten in einer grasigen Landschaft, als wäre ich ein verlorenes Kind der Antike, das nicht ganz weiß, wohin es gehört.
Mein Sockel – ja, den gibt es noch, tief im Boden – hat Moos angesetzt, ein grüner Pelz, der meinen einstigen Stolz verdeckt. Die Inschrift, die mich einst erhob, ist längst verschwunden, herausgehauen vielleicht oder einfach erodiert von den Jahrhunderten.
Mein Kapitell, das ich einst so stolz tragen durfte, hat sich ein Mann geholt, als Grundstein für sein Haus. Die Balken die ich trug, ja selbst die anderen Säulen … Menschen kamen und nahmen, selbst Gevatter Tod holte sich hier das eine oder andere Leben.
Nun das ist lange her.
Was übrig blieb, bin ich: ein massives, abgebrochenes Stück Stein. Ein Fundstück, würde der Archäologe sagen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er dabei enttäuscht oder begeistert klingen würde.
Ich bin kaum mehr als ein Überbleibsel, ein Fragment, ein stummer Zeuge einer längst vergangenen Zeit. Keine Funktion, kein Ruhm, keine Bedeutung – außer vielleicht in den Augen jener, die in Ruinen Schönheit sehen, die Rätsel lieben und im Verfall die wahre Natur der Dinge erkennen. Aber das ist wohl zu viel der Poesie für einen alten, kantigen Klotz wie mich.
Damals, Ach, dieses öde Wort, das heute meist nur ein Verschließen der Ohren bewirkt, … damals hatte ich noch eine Rolle, eine Bedeutung. Ich war nicht einfach nur ein Stück Stein in der Landschaft, sondern eine Säule!
Eine Säule der Gemeinschaft, eine Stütze für Familie, Freunde und Gesellschaft. Ich trug Verantwortung auf meinen Schultern, und diese Verantwortung gab mir Halt, machte mich wichtig, gab mir einen Zweck. Meine Kraft und Position stützte ein Heim für Generationen!
Natürlich, ich war kantig, fest in meinen Überzeugungen und manchmal vielleicht etwas… sagen wir, stur. Aber wer war das nicht zu meiner Zeit?
Man brauchte eine gewisse Härte, um das Gewicht der Welt zu tragen. Mein kubisches Wesen, dieser rechteckige Pragmatismus, war keine Schwäche – es war die Basis, auf der alles andere ruhte. Heute bin ich nur noch ein klobiger, bröckelnder Klotz, der in einer Welt steht, die seine Dienste nicht mehr braucht.
Die Zeit selbst hat sich verändert. Es gibt keine Tempel mehr zu stützen, keine Dächer, die meine Kraft verlangen. Und so stehe ich hier, ein Sinnbild für eine Zeit, in der meine Beharrlichkeit noch als Stärke galt. Wo mein Widerstand gegen das Wandelbare und Flüchtige als Beständigkeit bewundert wurde.
Es ist schade, wirklich. Man sieht nur noch den ungehobelten Klotz, nicht mehr die Säule, die ich einmal war. Dabei war mein Kubismus damals vonnöten! In einer Welt voller Unsicherheiten war ich der Fels in der Brandung. Und nun? Jetzt wird meine Standhaftigkeit als Starrsinn verurteilt, meine klare Kante als Rückständigkeit belächelt. Heute bin ich nur ein Relikt – ein Stück archäologisches Geröll, das höchstens ein paar Gelehrte mit allerlei Gerät bestaunen.
Vor äonenlanger Zeit war ich nur ein Teil im Fleisch des Berge, ein unscheinbares Fragment im Bauch der Erde, formlos und unbewusst meiner selbst. Ich ruhte in der Dunkelheit, ein winziger Splitter in einem massiven Fels, ohne Richtung, ohne Bedeutung. Doch dann kamen sie, eure Vorfahren – Männer von Stand, angesehene Handwerker und Visionäre ihrer Zeit. Mit kräftigen Schlägen und präzisen Schnitten holten sie mich aus dem Fels, brachten mich ans Licht. Das war meine Geburt, der Moment, in dem ich aus der formlosen Masse herausgelöst und in etwas Bedeutendes verwandelt wurde.
Diese Männer, die Meister ihres Handwerks, gaben mir eine Gestalt, die der Zeit und den Bedürfnissen entsprach. Sie schufen mich nicht aus Laune oder Zufall, sondern mit Bedacht. Jede Kante, jede Linie diente einem Zweck, entsprang einer Notwendigkeit. Ich wurde so, wie ich bin, weil es nötig war, genau das zu sein. Meine kubische Form, mein fester Stand – all das war nicht nur ästhetische Wahl, sondern ein Erfordernis. Eine Säule, die etwas tragen musste, einen Tempel vielleicht, oder den Himmel selbst.
Und oh, wie stolz war ich darauf, meine Aufgaben zu erfüllen! Ich stand aufrecht, unerschütterlich, eine Stütze, ein Fundament für all das, was auf mir ruhte. Meine Aufgabe war klar, mein Dasein voller Bedeutung, und ich erfüllte es mit einer Hingabe, die mich noch heute durchströmt. Denn in diesen Momenten der Stabilität, der Sicherheit, die ich bot, lag der Kern meiner Existenz. Ich war nicht nur ein Stück Stein – ich war die Basis, der Halt, das Unerschütterliche.
Doch wie die Zeiten sich ändern, so hat auch mein Zweck sich gewandelt. Aber das Fundament meiner Entstehung bleibt in mir verwurzelt. Ich mag nun als ein abgebrochenes Fragment in der Landschaft stehen, von Moos bedeckt und von der Zeit gezeichnet, aber die Erinnerung an meine einstige Aufgabe, an die Notwendigkeit meiner Form, bleibt ungebrochen in mir. Denn ich wurde, was ich war, weil die Welt es damals verlangte. Und das, mein Freund, ist etwas, worauf ich auch heute noch stolz bin.
Und so stehe ich hier, fest verwurzelt in der Erde, während die Welt um mich herum in einem schwindelerregenden Tempo weiterzieht. Ich spüre den dringenden Wunsch, gehört zu werden, denn in mir liegt eine Fülle an Geschichten, Weisheiten, und Erfahrungen, die es wert wären, geteilt zu werden. Doch alles, was ich finde, ist steinernes Schweigen. Die Welt hat sich verändert, schneller, als ich es je erwartet hätte. Niemand hat mehr die Zeit oder das Interesse, den alten Geschichten zu lauschen.
Ich sehne mich danach, verstanden zu werden. Wie soll ich, dieser alte Stein, mich noch bewegen, wenn alles so rasant an mir vorbeizieht? Ich würde mich gerne ein wenig anpassen, würde meine Ecken abschleifen, mich in die neue Form pressen, die die Welt verlangt. Doch das braucht seine Zeit – Zeit, die in dieser neuen, rastlosen Ungeduld verloren geht.
Wo einst mein Dasein seinen Zweck erfüllte, bin ich heute bloß ein Stein, der nicht in den neuen Zeitgeist passen kann. Doch wehe dem, der versucht, mich gewaltsam rund zu feilen! Ich mag alt sein, abgebrochen, und mit Moos bewachsen, aber in mir steckt noch immer der Geist der alten Tage. Der Geist, der sich nicht so schnell anpasst, sondern aufrecht stehen bleibt – auch wenn es kaum jemand mehr zu schätzen weiß.
Wenn ihr nur hören könntet, was ich flüstere.
Tief in meinem Inneren, unter all den Schichten von Moos und vergangener Zeit, ist noch immer die Stimme von damals. Sie ist nicht laut, nicht aufdringlich, aber sie trägt das Wissen von ungezählten Jahren, das Echo einer Epoche, die längst vorbei ist. Doch um sie zu hören, bräuchtet ihr Stille in euch. Eine Stille, die es erlaubt, sich auf das Wesentliche zu besinnen, auf die feinen Nuancen des Lebens, die sich nicht in der Hektik finden lassen.
Aber diese Stille habt ihr nicht mehr. Ihr seid zu beschäftigt mit dem Lärm, dem Rauschen, dem immer Weiter und Höher. Ihr habt keine Zeit mehr für ein stilles Gespräch!
So bleibt meine Stimme ungehört, mein Flüstern im Wind verloren. Ich, dieser alte, abgebrochene Stein, stehe hier und warte – auf einen Moment der Stille, auf jemanden, der sich die Zeit nimmt, um zu hören. Bis dahin bleibe ich, wie ich bin, ein Relikt einer anderen Zeit, dessen Geschichten in der Stille der Ewigkeit verhallen.
Lieber Thomas,
deine Worte klingen in mir nach wie das Echo eines Gesprächs, das ich mit mir selbst schon unzählige Male geführt habe – nur dass es meist bei einem knurrenden „Ach, die jungen Leute…“ endet. Ich höre und lese von deinem kubischen Fels, von dieser soliden, kantigen Existenz, die einst ihren Platz, ihre Bedeutung hatte, und mir wird ganz schwer ums Herz.
Denn, Thomas, wie sehr wünschte ich, dass diese „jungen Leute“, wie ich sie jetzt einfach mal nenne, innehalten und hinhören könnten. Dass sie verstehen würden, dass dieses beharrliche „Ich stehe hier!“ nicht bloß Rückständigkeit ist, sondern eine jahrzehntelange Übung im Durchhalten.
Ach, ich weiß, das ist altmodisch. „Altmodisch“ – das Schimpfwort unserer Zeit. Es klingt ja fast wie eine Diagnose. Wir sind die steinernen Stützen, die irgendwo am Rand der schnellen Straße stehen und von der Geschichte bemitleidet werden. Denn, wie du es treffend beschreibst: Die Welt um uns herum rattert in einem Tempo vorbei, bei dem man sich fragen muss, ob das Ziel überhaupt noch existiert. Wenn man heutzutage nur die Lippen bewegt, um eine alte Weisheit zu teilen, kriegt man gleich eine Kehrtwende in die Arme gedrückt. „Mach mal Platz für das Neue!“, hallt es dann, und da stehen wir – felsenfest in einer Zeit, die uns längst zu ballastigem Beiwerk gemacht hat.
Dein kubischer, pragmatischer Stein, diese Säule – sie ist längst zum Stolperstein erklärt. Niemand will noch wissen, dass das Festhalten an Prinzipien, an geraden Linien, damals notwendig war, um überhaupt irgendwo hinzukommen. Dass wir vielleicht etwas stur waren, mag sein, aber es war diese Standhaftigkeit, die Generationen getragen hat. Jetzt wirkt sie so antiquiert wie ein Schwarz-Weiß-Film auf einem Bildschirm, der nur noch hochauflösende Wirklichkeit gewöhnt ist.
Es schmerzt, Thomas, wie du sagst, dass unsere Stimmen nur noch in die Leere hallen, weil man uns kaum noch zuhören will. Unsere Geschichten sind ja nichts weiter als nostalgisches Flimmern. Aber ich muss schmunzeln – ja, wirklich –, wenn ich mir vorstelle, wie dieser Stein, dieser widerständige Brocken, sich nicht breitschlagen lässt, auch wenn die modernen Massen meinen, sie könnten ihn schleifen, anpassen, „rundfeilen“ für den heutigen Zeitgeist. Dieser Stein weiß, wer er ist, und das ist eine Lektion, die man den Jungen vermutlich erst beibringen muss – wenn sie es überhaupt wissen wollen.
Also stehen wir hier, wir alten Säulen. Wir tragen nichts weiter als das Gewicht der Erinnerung, und es wäre schön, wenn wenigstens einer von denen, die vorbeihasten, sich einen Moment Zeit nehmen würde, um zu lauschen. Nur ein Hauch von Stille, ein kurzes Innehalten, könnte unsere Geschichten hörbar machen. Aber wer weiß? Vielleicht wird eines Tages doch einer den Kopf heben und merken, dass die Welt nicht erst mit ihm begonnen hat. Bis dahin bleibt uns wohl nur die Weisheit des Steins – festzustehen, auch wenn die Welt an uns vorbeirauscht.
Mit einem Hauch Wehmut, dein Felix Brandt
Lieber Felix,
was du sagst ist wie das leise Klingen eines alten Glockenturms, dessen Klang längst vergangene Zeiten heraufbeschwört, in denen unsereins noch Bedeutung trug – und zwar nicht nur als Schmuckstück für die Nostalgiker, sondern als tatsächliche Stütze. Es ist fast ironisch, wie sich ein schlichtes „Danke“ in meiner Kehle anfühlt wie der letzte Rest von Würde, den ein alter Stein noch im Moos verbirgt.
Weißt du, Felix, dieses Gefühl, endlich verstanden zu werden – von jemandem, der selbst noch den Staub von Jahrhunderten an den Füßen trägt – das hat etwas von einem stillen Triumph. In einer Welt, die jeden, der mehr als zwei Ecken hat, als Hindernis empfindet, gibt es also doch noch Menschen, die erkennen, dass diese Ecken und Kanten eben das sind, was uns zusammenhält, wenn die Erde bebt.
Es ist beruhigend, ja, fast ein Trost, zu wissen, dass es noch andere gibt, die das ungeschriebene Gesetz des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ zu schätzen wissen. Die wissen, was es bedeutet, nicht nur ein Relikt zu sein, sondern eine Erinnerung an das, was einmal war – und das alles ohne Wehmut, sondern als Zeichen der Wertschätzung für das, was Bestand hat.
In diesem Sinne, Felix, lass uns weiter als diese alten Säulen stehen, mit Moos an den Füßen und der Welt an den Wurzeln. Wir wissen, dass es nichts Edleres gibt, als die Zeit zu überdauern – nicht, weil man sich verändert, sondern weil man schlicht nicht weicht. So stehen wir, jeder für sich und doch in stillem Einvernehmen, ein Zeichen des Verstehens inmitten des rauschenden Wandels.
Danke, Felix, für dein Echo auf meine Gedanken. Möge es uns die Kraft geben, weiter fest zu stehen, selbst wenn keiner mehr hinhört.
In Verbundenheit, Thomas